Reichspogromnacht in Werther, Gelsenkirchen, Hemmerden (2018)


Seit 1975 wird auf dem jüdischen Friedhof in Werther an die Ereignisse der Reichspogromnacht am 9.11.1938 erinnert. Am 11. November 2018, genau 80 Jahre nach der Verwüstung der Synagoge in Werther, der Plünderung jüdischer Geschäfte und der willkürlichen Inhaftierung jüdischer Bürger unserer Stadt, hat der Arbeitskreis mit zwei Ausstellungsteilen im Gemeindehaus der evangelischen Kirche die Gedenkfeierlichkeiten ergänzt.

Auf einem Poster und auf mehreren Schrifttafeln wurde der fünf Bürger gedacht, die in Werther geboren wurden. Sie wurden am 9. und 10. November 1938 erst in Gefängnisgewahrsam genommen und wenige Tage später u.a. in die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau zu einer mehrwöchigen Lagerhaft transportiert. Die Ausstellungsmaterialien werden hier noch einmal zur Kenntnis gegeben.

Hugo Alexander, am 29.10.1886 in Werther geboren, lebt mit seinen Eltern und seinen Geschwistern  in der Ravensberger Straße 25. Zusammen mit den Zwillingen Max und Julius Weinberg besucht er die Volksschule und die Zubringerschule in Werther. Nach seinem Medizinstudium lebt er als Arzt mit seiner Frau, seinem zehnjährigen Sohn Fred, damals Fritz-Bernd, und seiner achtjährigen Tochter Charlotte in Gelsenkirchen. Dort  wird er am 10.11.1938  in das fünf Kilometer entfernte Gefängnis Buer verbracht. Sein Sohn Fred macht sich mit Rollschuhen auf den Weg zu seinem Vater. Die Zeitungsausschnitte von 1998 stellt Fred Alexander zur Verfügung:

Hugo Alexander erhält die Auflage, Deutschland zu verlassen. Im Sommer 1939 emigrieren er, seine Ehefrau und seine Tochter nach England. Vorher erhält sein Sohn im April 1939 die Chance, von Köln aus mit einem Kindertransport nach England zu kommen. Nach einer Odyssee findet die Familie Alexander Zuflucht in New York. 
Hugo Alexander arbeitet als Arzt und stirbt am 26.06.1964.

Julius Weinberg , am 11.02.03.1887 in Werther geboren, lebt mit seinen Eltern und seinem Zwillingsbruder Max in der Ravensberger Straße 44. Zusammen mit Hugo Alexander besucht er die Volksschule in Werther. Mit 23 Jahren führt er erfolgreich zusammen mit seiner Mutter die Zigarrenfabrik nach dem Tod des Vaters.
Ende 1938 wird die Familie Weinberg gezwungen, die Fabrik zu verkaufen.
Im Zusammenhang mit den Aktionen der Reichspogromnacht wird Julius Weinberg am 10.11.1938 für mehrere Tage in Werther im Stadtgefängnis inhaftiert und anschließend für fünf Wochen im Konzentrationslager Buchenwald gefangen gesetzt.

Schreiben des Amtsdirektors vom 6.11.1953 (Quelle: Stadtarchiv Werther, B95)

In der Folge wird die Suche der Familie nach einem neuen Heimatland noch verzweifelter. Da Julius als gebrochener, kranker Mann das KZ verlässt, lastet nun die ganze Verantwortung auf der Ehefrau Elsa Weinberg.

Notiz des Amtsbürgermeisters vom 12.8.1939 (Quelle: Stadtarchiv Bielefeld, Judaica, Blatt 104)

Ihre Kinder können per Kindertransport nach England emigrieren. Julius und seine Ehefrau Elsa folgen im August 1939. Sie verleben den Lebensabend in London. Julius Weinberg stirbt 01.02.1965.

Philipp Sachs, am 14.08.1898 in Werther geboren, lebt mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern in der Bielefelder Str. 65. Er besucht die Volksschule und zieht nach dem 1. Weltkrieg nach Hemmerden. Dort arbeitet er als anerkannter Maßschneider und Manufakturenhändler in der Hindenburgstr. 23. Philipp Sachs lebt mit seiner Ehefrau Henriette und den Kinder Helmut und Jenni ebenfalls in dem Haus, das am 09./10.11.1938 zweimal von SS verwüstet wird. Er wird festgenommen und nach Dachau gebracht. Am 21.12.1938 wird er aufgrund eines Bittgesuches seiner Frau entlassen und kehrt nach Hemmerden zurück. Sein Warenlager muss verkauft werden und die Familie lebt von ihren Ersparnissen. Philipp wird gezwungen als Bauarbeiter zu arbeiten, die Kinder müssen die katholische Schule verlassen und in Köln und Düsseldorf zur jüdischen Schule gehen. Am 9.12.1941 wird die Familie Sachs nach Düsseldorf gebracht und von dort nach Riga deportiert. 

(Quelle: Transportliste von 1941, TF2016, mail(at)statistik-des-holocaust.de, OT411211-42.jpg )

Philipp, Henriette, Jenni und Helmut Sachs leben in Riga zuerst in der „Düsseldorfer Straße“. Seit dem 01.08.1943 gilt Philipp Sachs als verschollen; 1949 wird er für tot erklärt. 

Max Sachs, am  17.11.1898 in Werther geboren, wird von seinen Geschwistern als leicht behindert bezeichnet. Er begleitet seinen Vater Feodor Sachs beim Textilhandel und trägt den Koffer, mit dem sie über Land gehen und Textilien verkaufen.
1935 wird er beschuldigt, das Kriegerdenkmal in Werther beschmutzt zu haben. Wegen seiner geistigen Behinderung  wird er im Euthanasieprogramm in Bethel zwangssterilisiert. Er darf sich in der Folge nicht mehr in Werther aufhalten, angeblich um Jugendliche nicht zu gefährden. Daher wohnt Max vorübergehend in Halle bei seinem Onkel. Mit Schreiben vom 8. Oktober 1938 wird sein Vater von der Geheimen Staatspolizei Bielefeld aufgefordert, ihn in einer Anstalt unterzubringen. Am 10.11.1938 wird er kurzfristig in Halle  inhaftiert und dann nach Werther entlassen. Am 16.4.1939 wird Max Sachs in eine jüdische Anstalt in Berlin-Weißensee gebracht.

(Quelle: Stadtarchiv Bielefeld, Judaica, Blatt 92/93)
(Quelle: Stadtarchiv Bielefeld, Judaica, Blatt 95)

Der Amtsbürgermeister meldet der Gestapo, dass sich Max Sachs in Berlin befindet.

Von Berlin-Weissensee wird Max Sachs am 02. April 1942  ins Ghetto Warschau (eigentlich ist der Zielort der Deportation: Trawniki) gebracht und ermordet.

(Quelle: SachsMaxTransportliste19420402BerlinOT12-25nr500.jpg)

Julius Sachs, am 15.03. 1909 in Werther geboren, lebt später als Textilgroßhändler in Münster.  Anfang November 1938 besucht er seinen Vater Feodor und seine Geschwister in der Alten Bielefelder Straße 19. Dort wird er am 10.11.1938  verhaftet  und nach Buchenwald deportiert. Anfang Dezember 1938 kommt Julius Sachs aus Buchenwald zurück mit der Auflage, Deutschland binnen 8 Wochen zu verlassen (siehe Anschreiben des Bürgermeisters).

(Quelle: Stadtarchiv Bielefeld, Judaica, Blatt 104)

Er stellt einen Auswanderungsantrag nach England, wie der Amtsbürgermeister der Geheimen Staatspolizei-Staatspolizeistelle in Bielefeld mitteilt.

(Quelle: Stadtarchiv Bielefeld, Judaica, Blatt95)

Julius Sachs bleibt aber schließlich mit seiner Frau Ilse und seiner Tochter Rechel in Werther, um seine Vater zu pflegen, der 1942 stirbt. Nachdem er als Zwangsarbeiter in Bielefeld eingesetzt wurde, wird er mit seiner Familie am 1.3.1943 nach Auschwitz deportiert und dort als Zwangsarbeiter ausgebeutet. Eine Familie aus Werther steht im Briefkontakt mit ihm und kann ihm Lebensmittelpakete zusenden. Im Januar 1945 verstirbt  Julius Sachs auf dem Todesmarsch.