VHS Veranstaltungsreihe „Jüdisches Leben in der Region“ 2021


Der Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens in Werther“ hat im Herbst 2021 in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule „vhs-Ravensberg“ eine dreizehnteilige Veranstaltungsreihe zu vornehmlich regionalen Aspekten jüdischen Lebens im Rahmen der bundesweiten Initiative „#2021JLID 321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ durchgeführt.

Juden in Werther
seit dem 17. Jahrhundert

Der Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens in Werther“ beschäftigt sich seit 2008 mit der Geschichte der jüdischen Familien, die in der Zeit des Nationalsozialismus bis zu den letzten Deportationen 1943 in Werther gelebt haben. Jüdische Familien waren aber bereits früher in Werther ansässig. In dieser Veranstaltung werden wir die Ergebnisse der „Spurensuche“ in Archiven und Sammlungen präsentieren, die bis ins ausgehende 17. Jahrhundert zur Familie Aron Levi Heinemann zurückreichen. Dabei wird auch auf die Bedingungen und Methoden der Recherchearbeiten eingegangen.
Moderation: Ulrich Maaß (Heimatforscher), Ute Dausendschön-Gay (Sprecherin des Arbeitskreises)

Foto: Haus Sachs, Bielefelderstraße 19, um 1930;
Quelle: Privatbesitz

„Aktionen gegen das Judentum“ 1933 bis 1945 in Werther

Mit der Entmachtung des Reichstages und der Etablierung eines totalitären Regimes im März 1933 beginnt eine Serie von gesetzlichen Bestimmungen, mit denen die seit 1865 bestehende rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung systematisch rückgängig  und der „legalisierte“ Zugriff auf jüdische Vermögen möglich gemacht wird. Parallel zur Entrechtung und Enteignung finden ständig bestens organisierte, oft aber auch spontane antisemitische Übergriffe statt. Sie werden für die hiesige Region mit Ausschnitten aus Zeitzeugengesprächen dokumentiert, die seit 2009 geführt wurden.
Moderation: Mitglieder der Arbeitsgruppe „Zeitzeugen“

Quelle: Privatbesitz

Schicksale jüdischer Kinder: Kindertransporte

Mit der willkürlichen Verhaftung und Inhaftierung tausender Juden nach der Pogromnacht am 9. Und 10. November 1938 wurde auch im Ausland klar, dass die jüdische Bevölkerung in Deutschland und in den besetzten Gebieten in Gefahr war. Ende 1938 überzeugte eine Gruppe von Juden und Quäkern in Großbritannien die damalige Regierung, Kindern die Einreise und die Unterbringung in englischen Familien zu ermöglichen. Mehrere aus Werther stammende Kinder konnten auf diese Weise gerettet werden. Ihre Lebenswege können teilweise mit Hilfe ihrer Selbstzeugnisse rekonstruiert werden. Sie sind einprägsame Beispiele für die Folgen der Zwangsmigration und der kulturellen Verunsicherung und sind daher auch aus heutiger Sicht von exemplarischer Bedeutung.
Moderation: Julia Sußiek, David Ellerbrake (Politologe)

Quelle: Privatbesitz

Die Installation „Fractured Legacy“
der Künstlerin Mia Weinberg

Mia Weinberg arbeitet als Künstlerin in Vancouver. Sie hat mit ihrem Vater Kurt, der 1939 mit einem Kindertransport nach England ausreisen konnte, seine Heimatstadt Werther und die Stätten seiner Kindheit besucht. Ihr Vater hat dabei die Geschichte seiner Familie und der wenigen Überlebenden des Holocaust erzählt. Mia Weinberg hat dies in ihrer Installation „Fractured Legacy“ (‚Zerbrochenes Vermächtnis‘) verarbeitet und dabei vor allem die Probleme der zweiten Generation von Holocaust-Überlebenden thematisiert. Die erzwungene Ausreise ihrer Eltern hat für sie die Frage der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit und die Suche nach ihrem eigenen Platz in einer gewaltsam unterbrochenen Familiengeschichte thematisiert. Die Künstlerin wird durch ihre Ausstellung im Museum Peter August Böckstiegel führen und die anschließende Diskussion leiten.
Museumsführung und Moderation: Mia Weinberg
Weitere Informationen unter:

Mia Weinberg arbeitet als Künstlerin in Vancouver. Sie hat mit ihrem Vater Kurt, der 1939 mit einem Kindertransport nach England ausreisen konnte, seine Heimatstadt Werther und die Stätten seiner Kindheit besucht. Ihr Vater hat dabei die Geschichte seiner Familie und der wenigen Überlebenden des Holocaust erzählt. Mia Weinberg hat dies in ihrer Installation „Fractured Legacy“ (‚Zerbrochenes Vermächtnis‘) verarbeitet und dabei vor allem die Probleme der zweiten Generation von Holocaust-Überlebenden thematisiert. Die erzwungene Ausreise ihrer Eltern hat für sie die Frage der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit und die Suche nach ihrem eigenen Platz in einer gewaltsam unterbrochenen Familiengeschichte thematisiert. Die Künstlerin wird durch ihre Ausstellung im Museum Peter August Böckstiegel führen und die anschließende Diskussion leiten.
Museumsführung und Moderation: Mia Weinberg
Weitere Informationen unter: www.miaweinberg.com

Quelle: Privatbesitz

Schicksale jüdischer Kinder: Deportationen

In einem Projekt mit Schülerinnen und Schülern der Peter August Böckstiegel Kreisgesamtschule in Werther und Borgholzhausen sind die Biografien von jüdischen Kindern erarbeitet worden, die mit ihren Eltern 1942 und 1943 deportiert und in verschiedenen Konzentrationslagern ermordet worden sind. Die Lebenswege dieser Kinder, besonders das Schicksal des Borgholzhauseners Rolf Bauer, Zeitzeugenberichte über frühe Formen der Diskriminierung, denen sie ausgesetzt waren, und die Reaktion der Bevölkerung auf ihr Verschwinden stehen im Zentrum dieser Veranstaltung, in der auch das Butterfly Projekt zur Sprache kommt, an dem sich die Gesamtschule beteiligt.
Referentinnen: Eva-Maria Eggert (Lehrerin an der PAB Gesamtschule), Gisela Wölke (Lehrerin an der PAB  Gesamtschule) und Schülerinnen des 11. Jahrgangs

Quelle: Privatbesitz

Die Familie Israel und Emma Sachs

Die Familie Sachs gehört zu den Nachkommen des „Schutzjuden“ Aron Levi Heinemann. Sie hat in Werther als Viehhändler gewirkt, in späteren Generationen hat es auch Schneider und fahrende Händler gegeben. In der Veranstaltung werden die Recherchen zur Familie Israel und Emma Sachs aufgezeichnet. Die Lebenswege der fünf Kinder und der Mutter Emma Sachs konnten bis zu ihrer Deportation und Ermordung rekonstruiert werden. Sie sind exemplarisch für viele vergleichbare Schicksale von Familien, die zunächst durch Migration und Vertreibung auseinandergerissen wurden, bevor sie, oft nicht voneinander wissend, im selben Konzentrationslager vernichtet wurden.
Moderation: Inge Guntenhöner, Ulrich Maaß, Norbert Sachs, Ute Dausendschön-Gay

Quelle: Privatbesitz

Der Sportfunktionär Julius Hesse (1875-1944)

Julius Hesse wurde 1875 in einer jüdischen Familie in Borgholzhausen geboren. Er war Inhaber eines Schuh- und Sportgeschäftes in Bielefeld und wurde 1909 Präsident des DSC Arminia. Seinem juristischen und kaufmännischen Geschick war es zu verdanken, dass er 1910 den Verein vor der Insolvenz rettete. 1933 wurde er zusammen mit anderen jüdischen Vereinsmitgliedern ausgeschlossen. Nach der Deportation in verschiedene Konzentrationslager wurde er 1944 in Auschwitz ermordet. An diesem und anderen Bespielen wird die Bedeutung jüdischer Sportlerinnen und Sportler für die Vereinskultur zur damaligen Zeit erkennbar gemacht.
Moderation: Eva-Maria Eggert (Lehrerin an der PAB Gesamtschule), Friedhelm Schäffer (Historiker am Kreismuseum Wewelsburg)

Quelle: Privatbesitz

Die Musikpädagogin Maria Leo (1873-1942)

Das beginnende20. Jahrhundert wird oft  das Jahrhundert der Frauen genannt. Schaut man auf die Kämpfe der einsetzenden Frauenbewegung, dann gab es diesen Aufbruch. Aber kann man sich vorstellen, dass die vielgescholtene jüdische Klavierlehrerin Maria Leo Teil dieser emanzipatorischen Bewegung war?  Sie war es. Verschüttet, aber nicht vergessen ist, dass der Kampf um die Professionalisierung von Frauen als Musiklehrerinnen von der Musikpädagogin und Seminarleiterin Maria Leo geführt wurde. Sie gehört als Mitstreiterin für die Emanzipation der Frauen im Bereich der Musikerziehung an die Seite von Helene Lange, Alice Salomon und Helene Stöcker. Das Referat, welches ihr spannendes Leben und tragisches Ende beinhaltet, wird von Musik aus den zwanziger Jahren, den Jahren ihres Lebens in Berlin, untermalt. 
Referentin: Christine Rhode-Jüchtern (Musikwissenschaftlerin)

Quelle: Privatbesitz

Synagoge und jüdischer Friedhof
in Werther

In Werther hat es bereits im 18. Jahrhundert eine Synagoge gegeben, die Mitte des 19. Jahrhunderts durch einen Neubau ersetzt wurde. Diese wurde am Tag nach der Reichspogromnacht am 10.11.1938 verwüstet und zur Ruine gemacht. Nach dem Krieg wurde das Mauerwerk abgerissen und als Wegbefestigung verwendet. Der jüdische Friedhof ist seit dem späten 19. Jahrhundert im Besitz einer der jüdischen Familien des Ortes. Er ist nach dem Kriege mehrfach geschändet worden. Seit vielen Jahren finden nun auf ihm Gedenkveranstaltungen am 9. November statt. Die Veranstaltung beschäftigt sich mit der Bedeutung dieser beiden Erinnerungsorte für das jüdische Zusammenleben und mit ihrer noch heute relevanten symbolischen Bedeutung. Moderation: Sigrid Ellerbrake und Johannes Kortenbusch (Organisation der Gedenkveranstaltungen), Karola Eisenblätter, Ulrich Maaß

Quelle: Privatbesitz

Aspekte der Erinnerungsarbeit

Äußere Zeichen einer Erinnerungsarbeit für die Ereignisse während der Zeit des Nationalsozialismus sind Gedenksteine, Mahnmale, Stolpersteine, Erinnerungstafeln oder Stelen. In Werther hat es eine lange und teilweise heftige Auseinandersetzung um die Gestaltung, den Ort und die Beschriftung eines Gedenksteins für die Opfer des nationalsozialistischen Terrors gegeben. Diese Diskussion soll rekonstruiert und als Beispiel für eine weitverbreitete Problematik in Deutschland nach dem Kriege verstanden werden. Eine andere Beschäftigung mit Erinnerungsarbeit wird möglich, wenn Nachkommen von Überlebenden der Shoa zu Wort kommen und ihre Lebenserfahrungen mitteilen. Nachkommen der Familien Weinberg und Sachs werden bei dieser Veranstaltung anwesend sein und ihren Beitrag zum Thema einbringen.
Moderation: Carry Bosman-Levi, Mitglieder des Arbeitskreises

Quelle: Privatbesitz

Zusammenfassung der Veranstaltungsreihe

In der Region des Ravensberger Landes sind Dokumente über ansässige jüdische Familien seit der frühen Neuzeit in Archiven zugänglich. In Werther (Westf.) zum Beispiel, dem 1719 die Stadtrechte zuerkannt wurden, sind Schutzbriefe für drei jüdische Personen aus dem ausgehenden 17. und dem beginnenden 18. Jahrhundert belegt. Bis zur Deportation der letzten jüdischen Familien aus Werther im Jahre 1943 lässt sich deren Integrationsgeschichte in die Stadtgemeinschaft detailliert nachzeichnen. In mehreren Veranstaltungen zu jüdischen Familien und zu den Orten und Institutionen ihres religiösen Lebens wurde speziell dieser Aspekt exemplarisch bearbeitet.

Neben der Rekonstruktion der Geschichte von vier jüdischen Familien lag ein Schwerpunkt der Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus und der damit verbundenen systematischen Entrechtung, Enteignung und Vernichtung der jüdischen Familien auf dem Schicksal jüdischer Kinder aus der Region. Einige von ihnen konnten in Kindertransporten gerettet werden, die meisten Kinder aus Wertheraner Familien aber wurden mit ihren Eltern deportiert und ermordet. In zwei Veranstaltungen haben die Referentinnen und Referenten diese Geschichten aufgearbeitet.

Auch zum Bereich „Judentum und Bildung“ wurden mehrere Vorträge gehalten, die gleichzeitig eine überregionale Dimension in das Gesamtprojekt einbrachten. Die kanadische Künstlerin Mia Weinberg aus Vancouver hat im Museum Peter August Böckstiegel  ihre multimediale Installation  „Fractured Legacy – Zerbrochenes Vermächtnis“ präsentiert, mit einem anschließenden Vortrag zu Aspekten jüdischer Identität und kultureller Zugehörigkeit unter den Bedingungen von Zwangsmigration und Vertreibung. Mia Weinberg ist die Tochter des jüdischen Schülers Kurt Weinberg aus Werther, der 1939 mit einem  Kindertransport nach England ausreisen konnte. Damit wurde auch eine Anschlussmöglichkeit an aktuelle Problemstellungen und Erfahrungen der jungen Generation von Schülerinnen und Schülern hergestellt.

Die Bedeutung jüdischer Frauen für das Kulturleben im zwanzigsten Jahrhundert wurde in der Veranstaltung zu der Musikpädagogin Maria Leo dokumentiert. Ihr Schicksal steht exemplarisch für eine ganze Reihe von weiblichen Kulturschaffenden, die wichtige Beiträge zur Entwicklung in ihren jeweiligen Bereichen geleistet haben. Sie wurden aber entweder unterdrückt, verschwiegen oder ihre Ideen wurden von männlichen „arischen“ Kollegen okkupiert. In der musikpädagogischen Überlieferung finden ihre Namen keine Erwähnung mehr.

Ein wichtiger Bildungsbeitrag jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger wurde auch in der Veranstaltung über die Rolle jüdischer Sportlerinnen und Sportler für die Entwicklung der Vereinskultur in Deutschland zur Sprache gebracht. Dabei wurde sowohl die Bedeutung jüdischer Sportvereine für die Identitätsbildung thematisiert als auch die Mitwirkung jüdischer Sportfunktionäre in nicht-jüdischen Vereinen am Beispiel von Julius Hesse, des ehemaligen Präsidenten des DSC Arminia Bielefeld.

Die Veranstaltung zum Thema Erinnerungsarbeit ging auf allgemeinere  Aspekte des Themas ein. Sie wurde vor allem von Beiträgen von Nachkommen der Überlebenden der Shoa bestimmt, die über ihre Erfahrungen als Mitglieder der sogenannten „zweiten Generation“ berichteten. Am Beispiel der Diskussion über ein Mahnmal in Werther und anhand von konkreten Unterrichtsprojekten in Schulen wurden aber auch die Fragen der gesellschaftlichen Akzeptanz der Erinnerungsarbeit und der angemessenen Formen für diese Arbeit angesprochen.

Die ursprünglich geplante musikalische Rahmung der Veranstaltungsreihe mit dem Abschlusskonzert der sephardischen Künstlerin Esther Lorenz mit Musik und Texten aus der jüdischen Tradition konnte wegen der bedrohlichen Entwicklung der Corona-Inzdenzen leider nicht stattfinden. Sie ist nun für das Jahr 2022 angedacht.

Ein von der vhs-Ravensberg organisierter Besuch der Synagoge Beit Tikwa sowie die Beteiligung der Kursteilnehmer*innen an der online-Diskussion „Was bedeutet es heute, jüdisch zu sein?“ haben abschließend einen Einblick in das heutige Leben der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger gegeben.

Weitere ausführliche Versionen finden Interessierte im Geschichtsportal Werther.