Zeitzeugengespräche


Der Arbeitskreis Spuren jüdischen Lebens in Werther hat in der Vorbereitung des lokalen Teils der Wanderausstellung „9.11.1938 – Reichspogromnacht in Ostwestfalen-Lippe“ im Jahre 2009 mehrere Zeitzeugengespräche geführt. Es sollte dokumentiert werden, wie die Einwohner Werthers, die am 10.11.1938, am Tag nach der Pogromnacht, die Übergriffe auf das Textilhaus Weinberg und auf die Synagoge miterlebt haben, in der Rückschau darüber berichten. Die Mitglieder des Arbeitskreises hatten also nicht den Anspruch, die „Wahrheit“ über die damaligen Ereignisse zu erfahren, sondern wir wollten wissen, wie die Zeitzeugen aus der Distanz von über siebzig Jahren darüber berichten und wie sich für sie die Ereignisse darstellen. Aus den acht Gesprächen, die wir 2009 und 2010 geführt haben, wurden diejenigen Passagen als Videoausschnitte und in schriftlicher Form zusammengestellt, die sich auf die Reichspogromnacht in Werther beziehen. Das Material wurde während der Wanderausstellung 2010 in Werther gezeigt und mit großem Interesse bedacht, weil die Sichtweise der Betroffenen einen ganz anderen Blick auf die Ereignisse ermöglicht, als es in Geschichtsbüchern oder historischen Abhandlungen gelingen kann. Deshalb sind nach der Ausstellung die Videoausschnitte für die interessierte Öffentlichkeit in der Stadtbibliothek in Werther zugänglich gemacht worden.

Bei der Arbeit mit unseren Materialien in Schulen und bei Ausstellungen haben wir unsere Einschätzung bestätigt gefunden, dass Zeitzeugengespräche als Erinnerungsquellen für Ereignisse der Vergangenheit besonders auch für Schülerinnen und Schüler von großer Bedeutung sind und dass sie als Motivation für die Beschäftigung mit der Geschichte einer Region oder einer Stadt wirken. Wir haben daher entschieden, die Zeitzeugengespräche fortzusetzen und das thematische Spektrum der Auswertungen um die Themen zu erweitern, die uns in den Gesprächen von den Zeitzeugen angeboten wurden. Dies waren vor allem die Berichte über die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung, die Strategien des Verschweigens und Nichtwissens über die Ereignisse bei der Verfolgung jüdischer Mitbürger sowie die vielfältigen Aspekte der sogenannten „Aufarbeitung“ nach 1945.

Die insgesamt mehr als 20 Gespräche mit Zeitzeugen sind zwischen 2009 und 2021 entstanden. Wir haben die Gesprächspartner häufig durch die Vermittlung von Angehörigen oder Bekannten kennengelernt. Die Gespräche sind von verschiedenen Arbeitskreismitgliedern geführt worden und sie haben meist in der familiären Umgebung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen stattgefunden. In den meisten Fällen wurde eine Videoaufnahme (zwischen 45 Minuten und mehr als drei Stunden) erstellt. Es gab keinen vorgeplanten Gesprächsverlauf, lediglich der Zeitraum, auf den sich die Äußerungen beziehen sollten, war vorher vereinbart. So konnten sich die Gespräche frei entwickeln, ohne steuernde und beeinflussende Aktionen von Seiten der interviewenden Gesprächspartner. Die Wahl der thematischen Schwerpunkte für die Auswertung der insgesamt 18 Gespräche ergab sich folglich aus der Bearbeitung des Gesamtmaterials, sie waren vorher nicht festgelegt.

Bei der Auswertung und der Zusammenstellung der Ausschnitte für die Kapitel haben wir die mündlichen Äußerungen der Zeitzeugen in eine schriftliche Form gebracht, in denen der mündliche Charakter der Aussagen erhalten bleibt, in denen aber Wiederholungen oder Abbrüche „geglättet“ sind, um das Lesen der Materialien zu erleichtern. Aus diesem Grunde haben wir auch an einigen Stellen Erläuterungen [jeweils in eckigen Klammern] zum besseren Verständnis einer Passage eingefügt. Alle Zeitzeugen haben diese schriftlichen Versionen zur Kenntnis genommen und in der nun vorliegenden Form autorisiert.

Unter dem Suchbegriff „Zeitzeugengespräche“ können verschiedene Auswertungen der Gespräche im Geschichtsportal Werther aufgerufen werden:

  •  Die Gesamtauswertung aller Gespräche „Zeitzeugen erinnern sich“ in ausgewählten thematischen Kapiteln
  • Eine ausführliche Einführung in das Projekt „Zeitzeugengespräche“
  • Workshopmaterialien mit Aufgaben zur Verwendung in Unterrichtsprojekten und Fortbildungen zu den Themen
    • Ausgrenzung und Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung
    • Aktionen gegen jüdische Mitbürger vor 1938
    • Pogromnacht 9./10. November 1938
    • Die kommunikative „Aufarbeitung“ nach 1945
    • Aspekte der Erinnerungskultur in Werther nach 1945: Ein Beispiel
    • Fallstudie zum Gespräch mit Reinhold Sussieck