Diesem Beitrag stellen wir einige Thesen voran, mit denen die wesentlichen Inhalte der Diskussion um Erinnerungsarbeit und Erinnerungskultur umrissen werden:
„Erinnerung ist Vergegenwärtigung von Vergangenheit“
Dieses Zitat stammt von Aleida Assmann. Sie hat sich in ihrem Buch über Erinnerungskultur („Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention“) intensiv mit dem Gedenken und den verschiedenen Aspekten der aktuellen Diskussion über dieses Thema auseinandergesetzt.
Es ist so leicht gesagt: Ich erinnere mich genau! So war das damals! Doch so einfach ist das nicht. Wenn wir uns erinnern, holen wir die Vergangenheit in die Gegenwart. Dabei verändert sich unser Blick auf die Vergangenheit im Laufe der Zeit. Wir alle kennen das auch aus persönlichem Erleben. Die Erinnerung an wichtige Ereignisse des eigenen Lebens verändert sich. Sie stellt sich im Lichte neuer Erfahrungen oft anders dar als zuvor. Daher die These:
Die Rekonstruktion des Vergangenen (also die Erinnerung) ist nie etwas Absolutes, Objektives
Das Erinnern, also auch die historische Erinnerung, ist ein Prozess. Jedes einzelne Ereignis stellt sich für verschiedene Betrachter unterschiedlich dar, und je nach Abstand und eigener Beteiligung an den Ereignissen verändert sich die Wahrnehmung des Geschehenen. Was ich als Kind oder als junger Mensch erlebt habe, wird von mir in einer späteren Lebensphase vielleicht ganz anders beurteilt als zuvor.
Wahrnehmung geschieht aus der Perspektive der Gegenwart und wird geprägt von der Biografie derjenigen, die sich erinnern
Dazu gehört z.B. die Frage, ob Erinnerung überhaupt gewollt ist; ob andere sie hören wollen oder ob ich selbst sie aushalten kann. Sich nicht erinnern können oder wollen kann auch Selbstschutz sein. Schmerzhafte oder gar traumatische Erfahrungen werden verdrängt, um weiterleben zu können. Dies trifft ganz besonders auf Überlebende des Holocaust zu.
Das Erinnern ist deshalb selektiv und an die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sowie die Bedürfnisse der jeweiligen Zeit gebunden
Das gilt auch für den Umgang mit den historischen Fakten und den persönlichen Erinnerungen, die die Zeit des Nationalsozialismus betreffen. So hat es in der Bundesrepublik verschiedene Phasen des Erinnerns gegeben; der Umgang mit der Vergangenheit war (und ist) einem stetigen Wandel unterworfen. Um uns klarzumachen, wo wir in der BRD nach fast 80 Jahren und mehr als drei Generationen heute stehen, müssen wir einen Blick auf wichtige Meilensteine des Erinnerungsprozesses werfen. Die Übersicht vereinfacht sehr, ist aber sehr einprägsam:
1945 – Kriegsende
Die Nürnberger Prozesse (1945/46) wurden von den Besiegten vielfach als „Siegerjustiz“ empfunden; die Entnazifizierungsverfahren gingen dabei jedoch für viele Beteiligte recht glimpflich aus. Viele Menschen, die in nationalsozialistisches Unrecht verstrickt waren, wurden gebraucht – in der Verwaltung, in der Justiz, als Lehrer, etc. In den folgenden 20 Jahren des Wiederaufbaus (Wirtschaftswunder) herrschte weitgehend eine unausgesprochene Übereinkunft, die Vergangenheit ruhen zu lassen (totschweigen), oder sie gar völlig abzuschließen. Dies wird in dem Konzept der „Schlussstrichgeneration“ zusammengefasst, die sich für die Errichtung von Denkmälern für gefallene Soldaten und zivile Opfer des Krieges stark machte, den jüdischen Opfern des nationalsozialistischen Regimes aber keine Gedenkinitiativen gewährte.
1965 – Auschwitz-Prozess
Schon der Eichmannprozess (1961) in Israel hatte die deutsche Öffentlichkeit aufgeschreckt und nun gab es den ersten großen Prozess im eigenen Land, bei dem nicht nur herausgehobene Einzelpersonen auf der Anklagebank saßen, sondern vermeintlich ganz „normale“ Menschen. Mit der 68er-Bewegung war die erste Nachkriegszeit abgeschlossen; es setzte ein gesellschaftlicher Wandlungsprozess ein. In Bezug auf den Holocaust wurde das Schweigen nun oftmals gebrochen. Die Söhne und Töchter dieser zweiten Generation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellten Fragen und klagten an:
- Was habt ihr gewusst?
- Warum habt ihr mitgemacht?
- Warum habt ihr keinen Widerstand geleistet?
1978 – Fernsehserie „Holocaust“
Aber erst mit der Fernsehserie „Holocaust“ (die diesen Begriff für die Shoa etablierte) rückten individuelle Personen und deren Schicksale in den Blick der Öffentlichkeit. Die ermordeten Menschen waren nun keine anonyme Masse mehr, sondern bekamen Gesichter und eine eigene Geschichte. Das war zuvor anders, der Fokus der historischen Betrachtung lag meist auf den Tätern. Nun werden Holocaust-Überlebende ausfindig gemacht und eingeladen. Sie schreiben ihre Erinnerungen auf und tragen sie einer deutschen Öffentlichkeit vor, wie zum Beispiel Karla Raveh oder Sally Perel.
Die Ausstrahlung der Sendung und die damit angestoßenen Veränderungen in der Beschäftigung mit der Shoa waren jedoch sehr umstritten. Sie waren Gegenstand
einer erbittert geführten Kontroverse, die mit dem Aufleben rechtsradikalen Denkens in jüngster Zeit in einigen Milieus sogar wieder aufgenommen wird.
1985 – Weizsäcker-Rede
Die viel beachtete Rede, die der damalige Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 gehalten hat, stellt einen langfristig wirksamen Paradigmenwechsel dar. Das Kriegsende und die Kapitulation werden nicht mehr als Niederlage verstanden, sondern als Befreiung. Auch dies führte zwangsläufig zu kontroversen Diskussionen über einen längeren Zeitraum. Jedoch setzte sich diese Sichtweise in der Folge weitgehend durch.
2005 – zentrales Holocaust-Mahnmal Berlin
Mit der Einweihung des zentralen HMB sind Gedenken und Erinnerung in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es gibt nun vielfältige Formen des Erinnerns in allen Bereichen der Gesellschaft. Darauf reagiert aktuell eine Diskussion über die „ritualisierte Erinnerungskultur“, die zu dafür vorgesehenen Tagen und Orten immer wiederkehrende Akte des Erinnerns „zelebriert“ und danach wieder zur Tagesordnung übergeht. Auch dies wird in dem lesenswerten Buch von Aleida Assmann eingehend besprochen.
Auch in Werther fand eine Sensibilisierung für die Geschichte der Opfer statt. Die eingangserwähnte Schändung des jüdischen Friedhofs (1983) verstärkte die zuvor schon begonnene Beschäftigung mit dem Schicksal der jüdischen Familien aus Werther.
Im Anschluss an diese Schändung ergriff u.a. Hartmut Stieghorst von der Hauptschule Werther die Initiative zu einer Ausstellung über jüdische Familien aus Werther in den Räumen der Schule. In der Folge wurde die erste ökumenische Gedenkfeier auf dem jüdischen Friedhof durchgeführt, die seitdem ohne Unterbrechung in zeitlicher Nähe zum Gedenktag an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 stattfindet.
Das Seminar „Juden in Werther“ der vhs Ravensberg 1984 mündete in die Forderung, eine Gedenktafel oder einen Gedenkstein in Werther zu errichten, mit dem an die Wertheraner Opfer der Shoa erinnert werden sollte. Es folgte eine mehrjährige, teilweise heftig geführte Debatte über die angemessene Form des Gedenkens. Kontrovers diskutiert wurde vor allem
- ob ein Denkmal exklusiv für jüdische Opfer errichtet werden soll, oder auch andere Opfergruppen Erwähnung finden sollen
- welche Form das Denkmal haben soll und welcher Text für die Inschrift gewählt werden soll
- an welchem Ort in Werther es errichtet werden soll
Schließlich fand die Auseinandersetzung einen ersten Abschluss am 10. November 1994 mit der Einweihung des jetzigen Gedenksteines vor der Adler-Apotheke.