Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erinnern sich und erzählen


Im Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens in Werther“ haben wir bereits in der Anfangszeit begonnen, Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu führen und sie zu bitten, uns von ihren Erinnerungen an die damalige Zeit zu erzählen. Es war uns von vornherein klar, dass diese Erzählungen für unsere Arbeit von entscheidender Bedeutung sein würden: Jede einzelne Gesprächspartnerin, jeder einzelne Gesprächspartner gibt uns einen eigenen, unverwechselbaren Einblick in seine oder ihre subjektiven Erlebnisse, Erfahrungen und Empfindungen. Dabei ist nicht nur wichtig, was erzählt wird, sondern auch wie erzählt wird. Das Besondere an den Erzählungen liegt darin, dass die mehr oder weniger abstrakten historischen Tatsachen in einer Vielzahl von konkreten Einzelepisoden dargestellt werden. Fakten wie ’Ausgrenzung‘ der Juden oder ‚Judenverfolgung‘ sind uns aus den Geschichtsbüchern bekannt; wir wissen, was geschah. Aber aus den Zeitzeugen-Erzählungen erfahren wir, wie es erlebt wurde.

Unsere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen nicht nur von ihren Erlebnissen und Erfahrungen mit ihren jüdischen Mitbürger*innen, sondern sie äußern sich auch über ihren Erinnerungsprozess und das Aufarbeiten der Erinnerungen nach 1945. In ihren Erzählungen selbst betonen sie häufig, dass sie damals vieles nicht verstanden haben, z.B. warum jüdische Klassenkameradinnen plötzlich nicht mehr zur Schule kamen oder nicht in den Sportverein gehen durften, oder dass sie nicht wussten, was in Werther in der Synagoge passiert war. Das wird in Kommentaren wie den folgenden deutlich:

  •  das weiß ich nicht, da war ich ja noch ein Kind da, das weiß ich wirklich nicht;
  • ich habe nur die Tante Emma, weiß ich nicht, wo die geblieben ist nachher, das weiß ich auch nicht;
  • wann kamen wir denn schon nach Werther?;
  • das ist man alles erst später gewahr geworden;
  • ich hatte immer so das Gefühl, man hat was gewusst, man will’s aber nicht sagen.

Als Interviewer*innen haben wir dann manchmal nachgefragt, wie es denn 1945 nach Kriegsende war, als alles ans Licht kam, als man von den Konzentrationslagern hörte, von den schrecklichen Naziverbrechen erfuhr. Da müssten sie alle doch ganz entsetzt und erschüttert gewesen sein, meinten wir. Wie sie dann reagiert haben, haben wir gefragt: Was wurde denn dazu gesagt, wie wurde darüber gesprochen? Auf Fragen dieser Art bekamen wir drei verschiedene Arten von Antworten, die unterschiedliche Einstellungen zu den Ereignissen erkennen lassen:

  • Das Schweigen nach Kriegsende wird häufig thematisiert: So machen mehrere Zeitzeugen deutlich, dass auch nach dem Krieg nicht darüber gesprochen wurde. Eine Zeitzeugin stellt zusammenfassend fest: Die Frage der Juden in Werther ist jahrelang kein Thema gewesen.

Um die Situation zu charakterisieren, werden häufig Redewendungen gebraucht wie „unter den Teppich kehren“ oder „totschweigen“. Beispielsweise auf die Frage, was man nach Kriegsende über die Reichspogromnacht gesagt hat, antwortet ein Zeitzeuge: Das ist also hier in Werther immer totgeschwiegen worden. Ein anderer antwortet auf die Frage, was man denn über die Konzentrationslager erfahren hat: Nein, nein, da haben wir in dem Sinne gar nicht drüber geredet. Wie das zu der Zeit so gelaufen ist, da wurde nicht viel drüber geredet.

  • Eine andere Haltung, nämlich die Notwendigkeit, die Erinnerungen aufzuarbeiten,

gibt eine Zeitzeugin zu erkennen, die als Kind in Werther gelebt hat. Nach dem – relativ ausführlichen – Interview, das mit ihr geführt wurde, werden ihre Erinnerungen offenbar wieder lebendig. Sie schreibt in einem Brief: Meine Schwester und ich sprechen zwar oft über diese Zeit, und es ist ständiger Gesprächsstoff, vor allem mit unserem ältesten Bruder; aber vieles konnten wir erst im Lauf der Jahrzehnte deuten.

Sie selbst hatte Werther 1943 verlassen und hatte keine Verbindung mit Gleichaltrigen, die fast alle am Ort geblieben waren. Mit ihnen hätte man nach Jahren gegenseitig fragen müssen: Wie fandest Du den „Dienst“ im BDM? [Bund Deutscher Mädchen], weißt Du noch, wo der „Stürmer“ [antisemitische Wochenzeitung] ausgehängt war?, war die Zugehörigkeit zu den drei Konfessionen, die in der Klasse vertreten waren, wichtig? Das große Manko unserer Kinderzeit war unsere Unwissenheit, das Judentum betreffend.

Die Möglichkeit, die Verhältnisse und vor allem die Atmosphäre, die damals herrschte, Menschen in der heutigen Zeit zu vermitteln, beurteilt sie skeptisch: Also das versteht heute keiner. Am Ende des Interviews erzählt sie von einem Gespräch mit einer Freundin, der sie die Frage gestellt habe:

Sag mal, ist es dir gelungen, der nächsten Generation etwas mitzuteilen von dieser ((betont, deutlich)) Stimmung damals, von diesem – ja, manche Dinge, die man fühlte, aber nicht so aussprechen durfte oder konnte  –  so wie dieses durchgestrichene „evangelisch“ auf dem Schwarzen Brett in der Schule: Man sieht es, man weiß, was gemeint ist, aber man spricht kein Wort darüber. Und dann sag ich: Ist es dir gelungen… Da sagt sie: Ich hab es aufgegeben – eine unheimlich patente und kluge Frau (… ) Sie sagte, es ist nicht möglich; sie hatte gemerkt, es geht nicht“.

  • Im Unterschied zum Schweigen und zur Einsicht in die Notwendigkeit, darüber zu sprechen, besteht die dritte Art der Aufarbeitung nach 1945 in ausdrücklichem Bemühen um eine Erinnerungskultur, also die Erinnerungen zu bewahren, das Schweigen und das Vergessen zu verhindern.

Eindrucksvolle Beispiele dafür bietet das Zeitzeugengespräch mit Heinrich Ellerbrake: Er berichtet ausführlich über die Erinnerungen seines Vaters Wilhelm Ellerbrake, der seinerzeit als Amtsinspektor während der Kriegszeit die Amtsgeschäfte in Werther geführt hat. Nach dem Krieg hat er seine Erlebnisse während des Naziregimes schriftlich festgehalten; das war fast 50 Jahre nach Kriegsende, wenige Monate vor seinem Tod. Aus diesen Aufzeichnungen zitiert sein Sohn Heinrich, der die Nazizeit als Kind miterlebt und später noch Kontakte zu Überlebenden aus jüdischen Familien gepflegt hat. So erzählt er u.a. auch von seinen Kontakten zu Artur Sachs, dem einzigen Überlebenden aus der Familie Sachs. Dieser kam nach 1945 nach Bielefeld zurück und war dort der Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Er starb 1997 und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Bielefeld beigesetzt.

Heinrich Ellerbrake berichtet, Artur Sachs habe sich, nachdem der jüdische Friedhof in Werther 1983 zweimal geschändet worden war, für Gedenkfeierlichkeiten auf dem Friedhof eingesetzt, die dann zu „einer lieben Gewohnheit“ gemacht wurden und regelmäßig jedes Jahr stattfanden. Artur Sachs pflegte dort zusammen mit seinem Bielefelder Freund Alfred Spier das Kaddisch zu sprechen. Heinrich Ellerbrake erzählt:

Das [Kaddisch] hat er [Artur Sachs] zum letzten Mal gesprochen 1995; da war er schon recht krank. Und als wir uns dort verabschiedeten, sind wir zusammen zu seinem Auto gegangen, er war in Begleitung einer seiner Töchter. Und zum Abschied sagte er mir dann: ((betont)) ich habe Angst. Und weil er schon erkrankt war, war ich der Annahme, dass er seine Krankheit damit gemeint haben könnte. ((lauter, lebhafter)) Nein nein sagte er, ((leiser)) ich habe ANGST, dass sich das ALLES noch einmal wiederholen wird. Ja, und so stieg er in den Wagen und so haben wir uns verabschiedet. Ich habe danach noch mit ihm ein paarmal telefonieren dürfen, und er ist dann im Juni 1997 verstorben.

Diese Angst hat Artur Sachs schon viel früher – sicher auch angesichts der Schändungen des jüdischen Friedhofs – in seinen niedergeschriebenen Lebenserinnerungen zum Ausdruck gebracht. Er schreibt 1986 über sein Leben in Bielefeld nach dem Krieg:

Wenn ich ehrlich bin, so habe ich mich damals so entschieden, weil ich überzeugt war, dass sich so eine schreckliche Geschichte in Deutschland nie wiederholen könnte. Dieser Glaube ist durch die heutigen Entwicklungen, auch wenn sie sich bisher nur im Kleinen zeigen, gründlich zerstört. Nach allem, was in der letzten Zeit geschehen ist, kommen sofort alle schrecklichen Erinnerungen und Ängste wieder hoch.

Artur Sachs‘ Erinnerungen im GPW

Die Ähnlichkeiten zwischen den Entwicklungen vor 35 Jahren (1986) und den heutigen Entwicklungen von 2020/2021 sind erschreckend. Und sie zeigen sich – wie Artur Sachs sagt – keineswegs nur im Kleinen.