Erinnerungen und Probleme der „Zweiten Generation“


In dem Beitrag „Aspekte der Erinnerungsarbeit nach 1945“ wurde das Modell der fünf Phasen der Erinnerungsarbeit nach 1945 erwähnt. Darin wurde deutlich, dass bis in die sechziger Jahre die Beschäftigung mit der Nazi-Diktatur und ihren katastrophalen Folgen sich im Wesentlichen auf das Gedenken an die gefallenen Soldaten konzentrierte, auf die Opfer unter der Zivilbevölkerung, auf die Schwierigkeiten des Wiederaufbaus nach dem Kriege und nicht zuletzt auf die zentrale Frage von Schuld und Verantwortung. Im Grunde war diese Periode der Nachkriegszeit geprägt durch die Beschäftigung mit uns selbst – also Erinnerungsarbeit und Gedenkkultur im Wesentlichen aus der Perspektive der zivilen Opfer des Krieges, der Nachkommen gefallener Soldaten und teilweise auch aus der Perspektive der Täter und ihrer Rechtfertigungsversuche.

Die jährlichen Gedenkfeiern auf dem jüdischen Friedhof in Werther zur Erinnerung an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 sind ein gutes lokales Beispiel für diese Perspektivierung. In der jüdischen Tradition gelten Blumen auf Gräbern als Symbole der Vergänglichkeit und der Endlichkeit, sie haben daher an einem Ort eigentlich keinen Platz, der in den Kreislauf der Unendlichkeit eingebettet sein soll. Darum werden Gräber oft gar nicht „gepflegt“, statt Blumen werden Steine auf die Grabsteine gelegt. Kranzniederlegungen auf jüdischen Friedhöfen an Gedenktagen sind daher gutgemeinte Aktionen, die aber nicht den für solche Anlässe üblichen Ritualen jüdischer Gemeinden entsprechen, und um die sollte es ja eigentlich gehen.

Wir sind oft gefragt worden, warum es in Werther keine Stolpersteine gibt. Die Antwort ist:

Die Nachkommen der Ermordeten, mit denen wir gesprochen haben, wünschen das nicht, weder in den Familien Sachs noch in den Familien Weinberg. Es geht ja nicht darum, dass wir eine uns angemessen erscheinende Form des Gedenkens wählen, sondern dass wir die Betroffenen darüber entscheiden lassen, in welcher Form sie mit uns gemeinsam das Andenken wachhalten möchten. Wir haben immer Kurt Weinbergs Bemerkung im Ohr: er möchte nicht, dass Menschen über den Namen seines ermordeten Cousins Walter achtlos hinweggehen.

Diese beiden Beispiele mögen genügen um zu verdeutlichen, was wir mit der „Priorität der Opferperspektive“ meinen, die von Beginn an im Zentrum unserer Arbeit gestanden hat.

Darum sollen zum Abschluss dieses Beitrages noch einmal die Überlebenden und ihre Nachkommen zu Wort kommen. Kurt Weinberg, der 1939 mit einem Kindertransport aus Werther nach England entkommen konnte, hat einen wunderbaren Text mit seinen Erinnerungen an seine Großmutter Elfriede Weinberg und deren Haus in Werther verfasst. Seine „Oma“, wie er sie nannte, konnte noch im September 1941 ausreisen und zu ihrem Sohn Max und seiner Familie in den USA gelangen. Dort verstarb sie „friedlich“, wie Kurt schreibt, wenige Jahre später. Kurt beendet seinen Text über seine Großmutter mit den Worten: „she was one of those who were lucky“. Sie hat Glück gehabt, weil sie den Mördern entkommen ist, kurz bevor das generelle Ausreiseverbot für Jüdinnen und Juden im Oktober 1941 in Kraft trat und die Vernichtungsmaschinerie sich endgültig in Gang setzte.

So ist es auch anderen ergangen, die Deutschland rechtzeitig verlassen konnten oder auf andere Weise den Nationalsozialisten entkommen sind. Aus unseren Gesprächen mit Betroffenen wissen wir aber, dass damit nicht unbedingt ein geruhsames Leben in einer neuen „Heimat“ begann, sondern dass viele weitere Schwierigkeiten zu überwinden waren. „Glück“ gehabt zu haben, bezieht sich daher vor allem auf die Tatsache des Überlebens, und nicht auf die langfristigen Auswirkungen der erzwungenen Migration. Was Erinnerungsarbeit und Aufarbeitung für diese Personen und ihre Angehörigen bedeutet, wollen wir an einigen Beispielen deutlich machen. Wir möchten drei jüdische Stimmen zu Gehör bringen, die uns mitteilen, dass die Leiden der Judenverfolgung mit dem Ende des nationalsozialistischen Terrors nicht vorüber sind.

Wir beginnen mit einer schriftlichen Mitteilung, die uns Mia Weinberg übermittelt hat.

Sie ist die Tochter von Kurt W. Weinberg aus Werther, der eben schon erwähnt wurde. Er hat viel von seiner glücklichen Jugend in Werther, aber auch von der schrecklichen Zeit der Verfolgung und Ausgrenzung seit 1933 und von der Zwangsmigration nach England erzählt. Mias Familienerinnerungen basieren auf diesen Erzählungen, sie selbst hat bisher nur wenige eigene Erfahrung als Besucherin in Werther, u.a. 1994 mit ihrem Vater auf dem jüdischen Friedhof. Daraus ist die Installation „Fractured Legacy“ entstanden, in der Probleme von Identität und Zugehörigkeit in einer durch Zwang unterbrochenen Familiengeschichte künstlerisch aufgearbeitet werden. Zur Eröffnung der Ausstellung ihrer Installation im Museum Peter August Böckstiegel im September 2021 ist sie aus Vancouver angereist und hat mehrere Wochen hier zugebracht. Nach ihrer Rückkehr nach Kanada hat sie am 2. November 2021 den folgen Text an uns geschickt, den wir hier in unserer Übersetzung abdrucken dürfen.

Gedanken über drei Wochen in Deutschland im Jahr 2021

Mein Partner Will und ich sind seit drei Wochen aus Deutschland wieder zu Hause [in Vancouver], und Gedanken über unsere Zeit in Werther gehen mir immer noch durch den Kopf. Eines weiß ich mit Sicherheit, nämlich dass sich meine Gefühle gegenüber Werther, gegenüber Deutschland und dem deutschen Volk dramatisch verändert haben. An unserem ersten vollen Tag in Werther gingen wir mit einem Freund die Straße entlang, als ein großer Mann in blauem Overall mit kurzgeschorenen blonden Haaren an uns vorbei stiefelte. Ich gestand meinem Begleiter, dass dieser Mann mich ängstlich machte und mir ein Unbehagen bereitete, das ich von meinen früheren Besuchen in Deutschland kannte. Ich habe mich in diesem Land noch nie wirklich wohl gefühlt. Mir ist klar, dass dies wahrscheinlich auf ein generationenübergreifendes Trauma und auf meine stereotypen Vorstellungen vom „Look“ von Nazi-Sympathisanten oder Antisemiten zurückzuführen ist.

Während der drei Wochen, die wir in Deutschland verbrachten, änderten sich diese Gefühle. Wir wurden von unseren Gastgebern und allen Mitgliedern der Arbeitsgruppe „Spuren“ so herzlich empfangen, wie auch von David Riedel und den Mitarbeitern des Böckstiegel Museums, und sogar vom Bürgermeister. Die Reaktionen auf meine Installation „Fractured Legacy“ von denen, die an meinen Präsentationen teilgenommen haben, und von anderen Besuchern der Ausstellung haben mir ein tiefes Gefühl der Freude bereitet. Jetzt konnte ich zum ersten Mal meine eigenen Spuren in dieser Gemeinschaft hinterlassen, konnte meine Kunstwerke an den Ort meiner Vorfahren bringen, die Geschichte meiner Familie und unsere starke Verbindung zu Werther teilen und miterleben, wie meine Installation die Betrachter auf ihrer ganz persönlichen Ebene berührt hat. 

Am Tag unserer Ankunft besuchten wir einen Kurs des Programms der vhs Ravensberg und des Arbeitskreises im Haus Werther über den Kindertransport. Es war für mich eine starke emotionale Erfahrung, im Elternhaus meines Vaters zu sitzen und eine Videoaufnahme von ihm zu sehen, in der er über seine Flucht aus Deutschland spricht. Während unseres Aufenthaltes besuchten wir das Haus Werther viele Male: Wir besuchten das Sonnenblumenfest, ich hielt einen Vortrag vor der Arbeitsgruppe, wir gingen in die Bibliothek, um eine Fotokopie eines der Zeitungsartikel über meine Installation zu bekommen. Und eines Abends, bei einem Spaziergang durch den Garten von Haus Werther, sah ich durch ein Fenster im Obergeschoss, dass dort ein Tanzkurs stattfand. Der Bürgermeister erzählte uns, dass er in Haus Werther geheiratet habe und dass dieses Gebäude nun Teil seiner Familiengeschichte sei. Zu sehen, dass das Haus meiner Familie jetzt zur Wertheraner Gemeinschaft gehört und so gut genutzt wird, bringt mir ein großes Glücksgefühl. So wäre es auch für meinen Vater, wenn er noch lebte.

Diese Erfahrungen haben mir ein Gefühl der Zugehörigkeit zu Deutschland, zu Werther und vor allem zum Haus Werther gegeben, da ich erkannt habe, dass sie alle tief mit meinem familiären Erbe verbunden sind und ein integraler Bestandteil dessen sind, wer ich bin.

Ich habe nun das sichere Gefühl, dass in gewisser Weise Haus Werther jetzt auch zu mir gehört, ein Teil von mir ist; ich verspüre eine Zuneigung zu diesem Haus, und dies wird nicht mehr von dem Trauma verdrängt, von jener Nacht [1933] zu hören, als die SA an die Haustür kam [und versuchte, in die Wohnung meiner Großeltern einzudringen].

Auch Norbert Sachs ist für eine der Veranstaltungen in der VHS-Vortragsreihe im September 2021 nach Werther gekommen. Er hat uns in der Veranstaltung über die Familie Emma und Israel Sachs in bewegenden Worten das Schicksal seines Vaters geschildert. Helmut Sachs konnte als einziges Mitglied seiner Familie nach einer wahren Odyssee den Holocaust überleben, während sein Vater Philipp Sachs (Sohn von Emma und Israel aus Werther), seine Mutter Henriette und seine Schwester Jenni in Stutthof ermordet wurden.

Anders als Mia Weinberg kann Norbert Sachs seine bruchstückhaften Familienerinnerungen nicht aus Erzählungen seines Vaters speisen, denn Helmut Sachs hat nach dem Krieg über seine Erlebnisse geschwiegen. Norbert hat nach dem Tod seines Vaters damit begonnen, die Vertreibungsgeschichte seiner Familie zu rekonstruieren; dabei arbeitet er seit vielen Jahren eng mit dem Arbeitskreis zusammen. Er hat uns ebenfalls einen Text übermittelt, den wir hier wiedergeben:

Erinnerungsarbeit ist für mich die Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit meinen Vater Helmut

Mein Vater ist sehr früh gestorben, bereits mit 51 Jahren. Ich war damals, 1981, erst 17 Jahre alt. Mein Vater war ein sehr ruhiger, fast stiller Mensch. Wenn ich mich als Vater betrachte, so fallen mir immer Momente ein, wo ich mit meinen Kindern herzlich gelacht habe. Diese Erinnerungen fehlen mir bei meinem Vater.

Auch fehlen mir die Erinnerungen an seine Erzählungen aus seiner Kindheit. Damals war ich zu jung, um überhaupt danach zu fragen, nicht aus Desinteresse, sondern wahrscheinlich hatte ich in der Pubertät genug mit mir selbst zu tun. Wobei ich heute annehme, dass mein Vater nicht viel erzählt hätte, er nicht viel hätte erzählen wollen und können.

Zu schrecklich waren seine Erlebnisse, zu groß der Verlust, den mein Vater in seiner Kindheit erleben musste. 1941 wurde Helmut [11 Jahre alt] mit seiner Familie nach Riga deportiert, wo er seinen Vater verlor.
1944 wurde er ins KZ Stutthof deportiert. Seine Mutter und Schwester und seine Großtante sind dort verstorben.
Nach dem Krieg mit 15 Jahren die Erkenntnis, dass er als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt hatte und auf sich allein gestellt war.

Holocaust-Überlebende berichten, dass sie erst im hohen Alter in der Lage waren, über ihre Erlebnisse zu berichten. Erst dann waren sie bereit und haben die Kraft aufgebracht, bewusst zurückzuschauen und darüber zu sprechen und so ein Erinnern für die Nachkommen möglich zu machen. Vielleicht hätte das mein Vater auch gekonnt.

Mein Vater hat seinen jüdischen Glauben nicht gelebt. Er gehörte der jüdischen Gemeinde von Hamburg an, aber wir feierten Weihnachten, berücksichtigten keine Speisevorschriften und mein Vater besuchte nicht die Synagoge.
Ich vermute, dass Helmut das auch zum Schutz seiner Familie so entschieden hat.

Sein Schweigen ging so weit, dass mein Vater auch meiner Mutter nur ganz wenig über seine Vergangenheit berichtete. So existieren zwar Fotos, Akten und ein altes Buch der Propheten aus der Vergangenheit meines Vaters, aber es fehlen seine Erzählungen dazu.

Die Unwissenheit über die Vergangenheit meines Vaters hatte ich verdrängt, bis die Arbeitsgemeinschaft „Spuren jüdischen Lebens in Werther“ mich 2017 ansprach. Erst dann haben meine Mutter und ich die alten Fotos angeschaut und versucht, den Familienstammbaum zu rekonstruieren.

2018, zur Erinnerung an den 80zigsten Jahrestag der Reichspogromnacht, traf ich auf Einladung der Geburtsstadt meines Vaters in Hemmerden zum ersten Mal Großcousins und Großcousinen von mir.
Das Bedürfnis nach Erinnerung an die Eltern und Großeltern war bei allen Verwandten so groß, dass wir 2019 eine Reise in die Vergangenheit nach Riga und Stutthof unternahmen.
Eine Erinnerung – die jeder von uns berichtete – war, wie schwer es unseren Eltern fiel, Freude zu empfinden.

Meine jetzige Erinnerungsarbeit ist, dass ich sehr gern den Arbeitskreis bei seiner Arbeit gegen das Vergessen unterstütze und sehr dankbar dafür bin.
Aber eigene Recherchen fallen mir schwer, immer wieder projiziere ich dabei meinen Vater und meine Familie in diese schreckliche Vergangenheit und das macht mich traurig.

Auch wenn mir die Erinnerungsarbeit schwerfällt, hoffe ich, dass das stete Erinnern an diese schreckliche Vergangenheit zur Mahnung beiträgt.     

Carry Bosman-Levi aus Zelhem in den Niederlanden ist eine Cousine dritten Grades von Norbert Sachs, was beide aber lange Zeit gar nicht wussten, denn in beiden Familien wurde über die schreckliche Vergangenheit der Eltern nicht gesprochen. Auch sie ist für den Vortragsabend über die „Erinnerungsarbeit“ nach Werther gereist, um ihren Text mit ihren Gedanken und Erlebnissen als Kind der zweiten Generation von Holocaust-Überlebenden zu verlesen. Wir dürfen ihren Text hier in einer schriftlichen Version anfügen:

Ich hatte nie Großmütter und nur ein Großvater überlebte den Krieg

Ich bin Carry Bosman-Levi, geboren 1949 in den Niederlanden, wo ich seitdem lebe. 

Ich wurde als Tochter von Kurt Levi und Sophie Aussen geboren. Mein Vater, Kurt Levi, wurde in Schlangen (heute Bad Lippspringe-Schlangen) geboren und meine Mutter, Sophie Aussen in Hemmerden (bei Grevenbroich). Ich hatte auch eine Schwester Margrit, die 1952 geboren wurde und sehr jung starb. Durch meine Mutter besteht auch die Verbindung zur Familie Sachs.

Meine Geschichte beginnt am 9. November 1938, als die Kristallnacht stattfand. Mein Vater war 21 Jahre alt und machte eine Ausbildung zum Fleischer in Oeventrop (Arnsberg) und war wahrscheinlich in der Kristallnacht zu Hause; er erlebte die Reichspogromnacht in Schlangen hautnah, als ihn die Nazis verhafteten und nach Buchenwald brachten. Ich kann mich nicht erinnern, von wem ich das gehört habe.

Irgendwie hat es mein Vater geschafft, da rauszukommen. Wie, weiß ich bis heute nicht. Zuerst wusste ich gar nicht, dass er in Buchenwald gewesen war. Erst nach seinem Tod wurde mir das gesagt. Während meine Großeltern väterlicherseits beide in der Kristallnacht oder in der Zeit unmittelbar danach ermordet wurden in Schlangen.

Aufgrund dieser Ereignisse floh mein Vater 1939 in die Niederlande. 

Mein Vater kam wahrscheinlich mit einer Gruppe von jungen jüdischen Flüchtlingen in die Niederlande. Und er landete in der Nähe von Zelhem bei einem Bauern Anton Maalderink, der ein Onkel meines späteren Mannes war. Und in seiner Freizeit besuchte er mit den anderen Flüchtlingen die jüdische Familie Aussen, wo er meine Mutter kennenlernte.

Meine Mutter war damals schon in den Niederlanden. Ihr Vater war von Geburt an niederländischer Staatsbürger, also hatte meine Mutter auch die niederländische Staatsangehörigkeit. Zusammen mit ihrer Familie floh sie 1935 (aus Hemmerden bei Grevenbroich) in die Niederlande. Meine Mutter war damals 20 Jahre alt und half ihren Eltern im Haushalt und in der Metzgerei.

Als die Deutschen 1940 in die Niederlande einmarschierten und das Land besetzten, begann nach einer Weile die Judenverfolgung auch in den Niederlanden. Mein Vater und meine Mutter sind dann 1942 gemeinsam untergetaucht und haben den Krieg gemeinsam überlebt. Sie wurden an einem Ort namens Randwijk ins ”Veerhuis Lexkesveer“ auf der anderen Rheinseite von Wageningen, versteckt. 

Ich habe nie herausgefunden, wer ihnen geholfen hat.

Meine Eltern haben nach dem Krieg in Zelhem eine Metzgerei eröffnet und haben dort gewohnt bis zu ihrem Tod. Dies ist kurz gesagt die Geschichte meiner Eltern.

Das meiste, was ich hier beschrieben habe, wurde mir nie von ihnen erzählt. Im Laufe der Jahre hat man manchmal etwas gehört. Als Kind lernt man, die Ohren offen zu halten. Aber meine Eltern haben mir oder meiner Schwester in einem Gespräch nie erzählt, was passiert ist. Und ich habe damals keine Fragen gestellt. Das Thema Krieg wurde in meiner Familie nie diskutiert und so weit wie möglich vermieden. Wie es damals leider auch in der niederländischen Gesellschaft im Allgemeinen geschah.

Um den 4. und 5. Mai herum wurden meine Eltern immer sehr unruhig. Der 4. Mai ist das nationale Gedenken an die Toten in den Niederlanden. Zunächst nur für die Toten aus dem 2. Weltkrieg und später auch für Opfer aus anderen Kriegen. Dann, am 5. Mai, wird die Befreiung von der deutschen Besatzung gefeiert.

Als Kind hast du nicht verstanden, warum sie so unruhig waren. Irgendwann fängst du an zu denken, dass es daran liegt, dass du etwas nicht richtig gemacht hast. Du wirst unsicher und fängst dann an, immer mehr an dir selbst zu zweifeln. Was mache ich nicht richtig. Wenn ich etwas nicht richtig mache, sag es mir. Das Schlimmste ist, dass du so etwas dein ganzes Leben lang bei dir trägst. Dieser Text fällt mir daher sehr schwer, weil du aufgrund deiner Unsicherheit denkst: Das kann ich nicht. Das wird mir nicht gelingen.

Am Ende fand ich den Mut, etwas zu Papier zu bringen, um zu berichten, wie mein Leben durch die bereits erwähnten Ereignisse vor meiner Geburt geprägt wurde. Und wie du als Kriegsopfer der 2. Generation bestimmte Dinge in deinem Leben trägst.

Wie ich bereits gesagt habe, herrschte Stille über den Krieg. Erst als meine Mutter wusste, dass ihr Leben zu Ende ging, sagte sie zu mir: Dieser weiße Schrank ist jetzt für dich da. Ich nahm den Schrank mit, wusste aber immer noch nichts.

Erst dann erkannte und verstand ich teilweise, was passiert war und dass sie sehr viel Familie verloren hatten.  Und was für einen Einfluss das auf ihr Leben hatte.

Von diesem Moment an begann ich, mich mehr auf den Krieg zu konzentrieren und erkannte allmählich, was der Krieg, obwohl ich ihn nicht direkt selbst erlebt hatte, mit mir machte und welche Auswirkungen das auf mein Leben hatte.

Es wurde mir auch klar, dass meine Mutter (und wahrscheinlich auch mein Vater) schrecklich gelitten hat und dass dies zum Teil der Grund war, warum sie nicht die liebevolle Mutter sein konnte, die ich mir immer gewünscht hatte.

Familienmitglieder, um darüber zu sprechen, waren nicht da. Ich hatte zwei Cousins, einen Onkel und eine Tante. Ursprünglich waren die Familie Levi und die Familie Aussen sehr groß. Großeltern waren mir unbekannt. Ich hatte nie Großmütter und nur ein Großvater überlebte den Krieg.

Allmählich habe ich verstanden, dass dieser Mangel schon immer da war, manchmal im Hintergrund, aber auch regelmäßig im Vordergrund. Besonders bei Schwierigkeiten vermisst man die Familie, um mit ihr reden zu können.

Aufgrund all dessen, was passiert ist und wie wir damit umgegangen sind, denke ich, dass auch ich es schwer hatte, eine gute Mutter zu sein. Gleiches gilt für meine Rolle als Großmutter. Meine Kinder haben wahrscheinlich noch nie erlebt oder gefühlt, wie es ist, eine fürsorgliche Mutter zu sein oder was es bedeutet, einen Großelternteil zu haben. Ich hoffe, dass ich meine Rolle als Mutter und Großmutter für meine Kinder und Enkelkinder gut ausfülle und dass nicht allzu viele Details meines Verhaltens von meinen eigenen Erfahrungen beeinflusst wurden.

Ich hatte das Glück, einen sehr liebevollen Mann zu treffen, den ich geheiratet habe. Leider verstarb er 2012 plötzlich. Ich konnte mit all meinen Fragen und Zweifeln zu ihm gehen. Bei allem, was ich durchgemacht habe, war dieser Verlust extra schwer.

Zum Glück habe ich Kinder, Enkelkinder und liebe Freunde, die ich konsultieren kann. Angesichts dessen, was ich von ihnen höre, habe ich es zum Glück offenbar nicht allzu falsch gemacht. Aber trotzdem vermisst du immer noch deine andere Familie, die nicht mehr da ist.

Ich habe mich an die jüdische Sozialarbeit gewandt und Gespräche mit ihnen geführt. Die Unterstützung, die ich von ihnen bekomme, macht es mir leichter, ein wenig einfacher zu leben.

Das ist meine Geschichte als „Opfer“ der 2. Generation.